Hermann Kesten an René Schickele
Paris, 7. September 1939

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Original: Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek. München, mit freundlicher Genehmigung von Marian Houston Strauss.

 

AN René Schickele
Hotel de l'Intendance
50, Rue de l'Université, Paris VII
7. September 1939.

Sehr verehrter, lieber Herr Schickele,

wie gerne wäre ich in diesen schweren und dunkeln Tagen in Ihrer Nähe. Fast wäre ich auch zu Ihnen nach Vence gefahren. Ich schrieb Ihnen von Trouville. Aber ich bin doch nach Paris gereist, um hier zu erfahren, dass ich in ein Konzentrationslager gehn muss, gleich allen Refugiés, ins Rassemblement étranger au stade olympique Yves-du Manoir à Colombes (Seine). Es ist eine ungedeckte Radfahr-Arena, mit Wiese und Tribünen, Platz, um 500 Menschen unterzubringen, nicht aber 15,000 oder 20,000 zusammenzupferchen. Ich habe Angst davor. Aber ich bin natürlich durch alles zu erschrecken, was die dignité humaine, die Würde des Menschen angreift. Und welche Nation respektiert sie noch?

Ich hätte schon gestern im Lager sein müssen. Tausende stehn zwölf Stunden am Tag Schlange und übernachten darnach auf der Wiese daneben, vor lauter Ungeduld, ihre Freiheit aufzugeben. Ich ziehe es vor, im Bett meines Hotels zu schlafen. Auch morgen wird es noch zu früh sein fürs Stadion.

Wäre ich allein, ginge ich gar nicht hin. Ein vernünftiger Mensch begibt sich nicht freiwillig in Gefangenschaft. Toni fürchtet insbesondre die Pariser flics und ihre recht bekannte Methode, "passer à tabac",. Da es heisst, wer sich nicht melde, komme ins Gefängnis, sieht mich Toni bereits von den Pariser Polizisten halbtot geprügelt, beschädigt, für Lebenszeit eingekerkert...

Frankreich beginnt also seinen Krieg gegen Hitler mit dem Krieg gegen die Feinde Hitlers, die nach Frankreich geflüchtet sind. Solche Siege gegen die Opfer des Tyrannen macht diese Art Sieger zum nächsten Opfer des Tyrannen. Man erzählt, französische Schriftsteller (und man nennt die Namen) hätten auf Befragen der französischen Regierung angeraten, auch die exilierten deutschen Autoren erst mal ins KZ zu sperren, ins französische, und sie dort zu examinieren und dann eventuell sie darnach einzeln wieder zu entlassen.

Wenn Sie mir schreiben wollen, wird meine Frau Ihnen antworten, da sie vorläufig unbehelligt bleibt.

Das Gesicht jeden Krieges ist unmenschlich. Der Krieg löscht jedes Recht aus, warum also nicht auch die Rechte des Individuums. Die Völker handeln nicht nur unwürdig, sondern leider auch närrisch. Unter Völkern wie unter Individuen gibt der niederträchtigste, der dümmste den Ton an.

Ich sah im Haufen derer, die sich ins Lager drängten, Leonhard Frank – der Mensch ist gut – und den Konrad Heiden, den Biographen Hitlers, und Joseph Bornstein, den Redakteur des Neuen Tagebuchs, und der Pariser Tageszeitung, unserer Antinaziblätter. Da gingen auch Nazis hinein, und deutsche Mönche, und solche, die schon aus Hitlers Konzentrationslagern entflohen waren, und Juden, die man aus Deutschland vertrieben hatte, und Christen, die man in Deutschland ins KZ geschickt hatte, weil sie wie Christen gesprochen, wie Christen gehandelt hatten, ich sah bekannte Pazifisten, verängstigte Zivilisten, bedeutende Wissenschaftler, Künstler, und Bettler, und Invaliden mit dem Bändchen der Legion d'Honneur.

Paris ist von einem Tag zum andern verwandelt, verwüstet, militarisiert. Die Stadt trägt Uniform, es steht ihr nicht. Das Volk ist verzweifelt, und vor Verzweiflung böse. Die Regierung Daladier....

Ich pflegte im Scherz zu sagen: Völker, die mich einsperren wollen, gehn unter. Aber mir geschieht recht; denn ich wusste, dass ich Frankreich zur Zeit verlassen musste, wie ich auch Deutschland zur Zeit verlassen habe. Ich tat alles, um wegzukommen, – und blieb.

Und wenn ich morgen wirklich nach Colombes ins KZ gehe, gerüstet mit zwei Unterhosen, mit Gabel und Messer, einer Dauerwurst, der Bibel und Rousseaus Confessions, so geschieht mir recht.

Aber Frankreich hat unrecht, wie Deutschland unrecht tut.

Wenn meine Frau Ihnen schreibt, dass ich ins Lager gegangen bin, ohne sogleich wieder freizukommen, so helfen Sie mir, mein lieber Freund, sofern Sie es können. Eines weiss ich sicher: Wenn ich ins Lager gehe, lange bleibe ich auf keinen Fall darin. Es wäre reizend, wenn Sie oder Ihre liebe Frau der Toni schreiben wollten, ins Hotel de l'Intendance. Ich grüsse Sie herzlichst und sorgenvoll.

Ihr Hermann Kesten.