René Schickele an Alfred Neumann
Sanary-sur-Mer, 7. Dezember 1933
7.XII.33.
Liebe Freunde,
doch, ich habe den Brief erhalten und mich sehr gefreut. (Früher hatte mich Tonio Kröger auch den an ihn gerichteten lesen lassen.) Haben Sie vielen Dank! Aber bis vorgestern lebte ich als Zuchthäusler, der 10 Stunden am Schreibtisch verbrachte, als Opfer des Verlegerwahns, mein Buch müsse zu Weihnachten erscheinen und nicht erst, wie ich wollte, zu Ostern. F. begann zu drucken, als ich noch gar nicht fertig war. Die "Voss" nahm den Roman "begeistert" an auf Grund der 1. Niederschrift, die ich in 3 Monaten herunterhaute – um ein Haar hätte man angefangen, danach zu drucken! Im fertigen MS, mit dem ich also vorgestern fertig wurde, ist kaum ein Satz stehn geblieben. Sagen Sie, lieber Freund, für wen und wofür schinden wir uns eigentlich, wenn die "Sachverständigen" die roheste Form "wunder-, wunderschön" finden? – Das Buch hat mich wortwörtlich gerettet. Ich konnte, wollte nicht mehr... Ich lebte Tag und Nacht in einer Art Apokalypse. Da stürzte ich mich blindlings in die Arbeit. Ich wusste erst gar nicht, wo es hinaussollte, der Gang der Handlung war mir unklar, ich rief einfach die Geister und – schlug die Schlacht. Ich weiss nicht, ob ich sie literarisch gewonnen habe, menschlich ist mir der Sieg gewiss.... Ich mag, ich will wieder leben! – In dem Buch steht kein Wort von Politik, es fängt lachend an, es lacht sehr derb, und dann wird's traurig und böse – mais j'ai gardé le sourire jus qu'à à la fin, und sich's für einen entlassenen Strafgefangenen gehört. Ich habe die Zeit in ihren tiefsten, verborgensten Trieben erfasst – und eine kleinbürgerliche Tragödie daraus gemacht. Die "Voss" lehnte erst ab, aus politischen Gründen (die sich auf meine Person bezogen), die "Frankfurter" aus Angst vor der Erotik (begreiflich, es werden ohnehin schon arische Mädchen genug von Juden geschändet!), und plötzlich griff dann die "Voss" doch zu. Keine Ahnung, was sich tatsächlich zwischen Bermann und Ullstein abgespielt hat – es ist mir auch völlig gleichgültig. Ich vermute, in der Zeitung werden sie mächtig streichen. Meine einzige Sorge ist, ob Geld herauskommt. Vor 4 Jahren hätte uns der Vorabdruck herausgerissen, jetzt – gibt es 1.) ein jämmerliches Honorar, 2.) fragt sich, ob und wie ich zu dem Geld komme.
Hier ist es still geworden, Tonio und sein Bruder sind Ende vorigen Monates fort, Tonio nach Zürich Küsnacht bei Zürich, Schiedhalten Str 33, der Bruder ins Innere Frankreichs. Es war eine schöne Zeit. Wir trafen uns fast täglich und einmal in der Woche bald bei dem einen, bald beim andern, und dann lasen wir uns vor einer kleinen Gesellschaft "Habitués" aus unsern neuen Büchern vor. Von den näheren Freunden ist nur noch Meier-Graefe da (der ständig hier wohnt.) Ausserdem: der Mann der Maultasch, der Grischa, der kleine, flinke Kesten und der Junge, den man mit Unrecht beschuldigt, alles von Kipling und Villon gestohlen zu haben.
Wir bleiben hier. Das Klima bekommt mir sehr gut. Ich arbeite so gut wie noch nie. Das Heimweh freilich ist nicht gering... Und – man sieht kein Ende. Die Welt ist todestrunken.
Wie gut, dass Sie den Winter in Florenz verbringen! Wir müssen uns dann sehn. Wann fahren Sie? Welchen Weg?
Ja, und nun sind auch Sie mit Ihrem Buch fertig. Warum, wollte ich fragen, soll es erst zu Ostern erscheinen – aber schon schäme ich mich der Frage. Die Hauptsache: das Buch steht, lebt, ist da. Unsere alten, lichten Götter werden uns schliesslich doch nicht im Stich lassen. Vorläufig: herzliche Glückwünsche und Händedruck! Ich freue mich darauf, es zu lesen. Arbeiten Sie gleich weiter?
Seien Sie beide umarmt, der Reihe nach von meiner Frau, dem Jungen und Ihrem
treuen R.S.