Walter Hasenclever an Kurt Pinthus
Nizza, 29. Oktober 1938

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Original: Deutsches Literaturarchiv Marbach.

21, rue Alphonse Karr,
Nice (A.M.) France, den 29. 10. 38.

Mein lieber Dicker!

Ueber Ihren Brief vom 17. Oktober habe ich mich schrecklich gefreut. Die guten Nachrichten, die Sie mir von Ihrem Wohlergehen und Ihren Erfolgen melden, sind eine Belohnung wegen der fürchterlichen Berliner Jahre, die Sie durchstehen mussten, um wieder in die Freiheit zu gelangen. Das Gleiche gilt von mir. Sie werden alles Wissenswerte über mich von Schairer erfahren haben, sodass ich mich kurz fassen kann.

Ich bin mit Ethe in der alten Stadt meiner Liebe, in Nizza, gelandet, wo wir in der Umgegend ein kleines Häuschen auf dem Lande mieten wollen, um hier solange zu bleiben, wie es geht. Aber wielange wird es gehen? Dieses Land ist nach der beschämenden Niederlage der Demokratien in Europa auf dem besten Wege, faschistisch zu werden, was durch eine Verständigung mit den Gangsters eher beschleunigt wird. Der Antisemitismus blüht. In den Briefkästen findet man bereits antisemitische Flugblätter: die Juden wollten den Krieg! Zeitschriften mit Streicherschem Unflat schiessen aus dem Boden. Natürlich wird das nicht von heute auf morgen zur Wirkung kommen. Aber die plötzlich durchgeführte italienische Judenhetze ist eine Warnung...

Ich besitze meinen englischen Titre de Voyage, sodass ich jederzeit nach London kann. Aber wir denken ernstlich daran, nach New York unsere Schritte zu lenken. Ich habe als Chance mein neues Stück, für das sich die Theatre Guild interessiert. Ich will noch abwarten, ob ich mit einem Theatererfolg nach drüben kommen kann, was meine Einreise und dortige finanzielle Situation natürlich sehr begünstigen würde. Das muss sich diesen Winter entscheiden. Dann werden wir weiter sehen, und ich werde mit Ihrer und Schairers Hilfe, der ja auch nach dort tendiert, erwägen, wie man am besten herüberkommt, falls es nicht über das Theater geht. Auf jeden Fall wollen wir uns in die Einwanderungsquote hier eintragen lassen; die soll aber auf zwei Jahre im voraus schon in Anspruch genommen sein!

Leider habe ich mein italienisches Geld noch nicht gerettet. Die Räuber wollen einem sogar die Möbel abnehmen. Strauss sitzt passlos in Lastra und will sich ein Ausweispapier kaufen. Wir sind in ständiger Korrespondenz und hoffen, ihn hierher zu bekommen. Dann wollen wir alle zusammen die Fahrt nach Amerika einleiten, sodass begründete Hoffnung besteht, dass Sie uns in nicht allzu ferner Zeit am Quai in Empfang nehmen. Sie haben Straussens Initiative viel zu verdanken. Stellen Sie sich vor, Sie wären heute noch in Berlin, oder womöglich in Italien!

Ich danke Ihnen, alter Bursche, dass Sie über mich lesen und den guten "Sohn" noch in Ihr Herz schliessen. Ich bin überzeugt, Sie werden über meine neue Komödie entzückt sein, und möchte Ihnen eine deutsche Kopie schicken, die ich in diesen Tagen anfertigen werde. Die englische Uebersetzung liegt vor und Klein arbeitet damit bereits in London und New York. Es ist das Hohe Lied gegen Faschismus und Antisemitismus!

Meine Lampe bei Ihnen ist auch mir ein Trost, dass wir uns wiedersehen und, wie in alter Zeit, jetzt als Fünfzigjährige noch einmal das Leben meistern. Dazu wollen wir uns gegenseitig mit allen Kräften behilflich sein! In diesem Sinne umarme ich Sie in Liebe und Anhänglichkeit. Vergessen Sie mich nicht: Sie haben den richtigen Weg gewählt. Ich folge Ihnen nach.

In Treue Ihr alter Leipziger Genosse
Hasenclever