Ernst Weiß an Hermann Kesten
Schreibort unbekannt, zwischen dem 25. November und dem 3. Dezember 1933
Lieber Freund Kesten!
Viel schönen Dank für Ihren so sehr lieben Brief und das Geld, das erste, das ich seit Jahr und Tag eingenommen habe. Das Manuskript ist leider schon Ende voriger Woche nach Amsterdam abgegangen, ich hoffe, Sie erhalten es bald nachgesandt. Es bedarf noch einiger Kleinarbeit, besonders im Anfang des dritten Teiles, und auch der Schluss wird nicht ganz einfach sein. Ich bin höchst begierig, Ihren Gesamteindruck kennen zu lernen, ich habe die Sache bisjetzt noch niemandem gezeigt. Ein analoges Exemplar habe ich auch Querido zugehen lassen, dies sage ich der Loyalität halber; man weiss ja gar nicht, wie wir zu unseren Lesern kommen sollen. Früher oder später doch, daran glaube ich fest; in Binnendeutschland kann sich unter dem herrschenden Druck, und nochmehr infolge der ungeheuren Missbräuche, die mit dem geschriebenen und gesprochnen Wort getrieben werden, und auf die das Regime nicht verzichten kann, keine anständige Arbeit durchsetzen. Ich freue mich sehr, auch Sie bei der Arbeit zu wissen, für mich ist sie hier einfach alles, die Stadt ist öde und ungastlich, selbst zwischen den Gleichgesinnten wenig Freundschaft.. Wird der Verkauf der Anthologie in Deutschland erlaubt sein?
Haben Sie den neuen Mann und Werfel gelesen? Ich kam bisjetzt nicht dazu, ich bekomme keine Bücher, und sehe auch keine Menscehen, die welche haben. Sobald ich den Kopf wieder etwas freier habe, werde ich mich aber doch daran machen.
Lassen Sie es sich nach Möglichkeit gut gehen, es ist heute eine besondere Leistung, genau wie während des Krieges, sich zu erhalten, (und für uns ältere Menschen ist es schon die zweite ungeheure Katastrofe, die wir bewusst miterleben,) und Ihr jüngeren habt vom Leben wenig genug gehabt..
Herzlichst grüsst Sie der Ihre:
Ernst Weiß