Hermann Kesten an Franz C. Weiskopf
Los Angeles, CA, 19. Dezember 1946

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Original: Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek. München, mit freundlicher Genehmigung von Marian Houston Strauss.

 

c/o D. Schneider
1534 So. Edris Drive
Los Angeles 35, Cal.

19. Dez. 1946.

Lieber Weiskopf:

Eben erst erreicht mich die Nummer der Saturday Review for Literature mit Ihrer praechtigen Kritik, und ich danke Ihnen schoenstens fuer alles Liebe und Gute was Sie schrieben, ich hoffe, und nehme an, es wird dem Buch nuetzen.

Wie geht es Ihnen und Ihrer lieben Frau? Alfred Neumann hat mir eine "Liste des schaedlichen und unerwuenschten Schrifttums", "Stand vom 31. Dezember 1938 – Streng vertraulich! Nur fuer den Amtsgebrauch!" Nor 05437 geliehen, und wen finde ich da?

Weiskopf, Franz Karl: Saemtliche Schriften
Weiskopf, Grete: Saemtliche Schriften
Wedding, Alex (Pseud.) s. Weiskopf, Grete

Schade, dass ich diese Liste nicht nach New York mitnehmen darf, sie waere eine recht nuetzliche Ergaenzung fuer Ihre Literaturgeschichte des Exils. Hermann Hesse ist zum Beispiel gar nicht vertreten, Ernst Glaeser: Saemtliche Schriften (bis 1933)."

Wie bezeichnend, und aufklaerend.

Sie faenden da manche Schrift wohl, die im Exil erschienen und Ihnen beiden vielleicht entgangen ist. Alle Buecher sind mit Verlag, Erscheinungsjahr und Ort aufgefuehrt, ausser wo saemtliche Schriften verboten sind.

Gestern wurden hier gleichzeitig eine dramatische Bearbeitung von Roths Hiob, und an andrer Stelle eine Bearbeitung nach Ernst Toller gegeben. Die armen toten Freunde koennen sich nicht wehren.

Los Angeles, Hollywood, Santa Monica, Pacific Palisades, Westwood Village, Pasadena, etc, etc. kurz, diese Weltstadt von 3,9 Millionen, die wie eine Ortschaft auf Abbruch aussieht, wie eine Filmkulisse, wie eine Ruinenstadt kurz vor Abwurf der Atombombe, oder eine Tankstellenkollektion, verziert mit Palmwedeln und zukurzgekommenen Hauskonstruktionen. Hier hat sich die absolute Freiheit der individuellen Haesslichkeit aufs absurdeste dokumentiert. Die Stadt wird immer schoener, je weiter man sich von ihr entfernt; denn die Landschaft hat wirklich gewisse geborgte Reize, das Meer, die Berge daneben, das gewisse dezemberlich frappante Gruen, abgestorbene Foehren und bluehende Kakteen, und dazwischen die Scheinwerfer neuerrichteter Kinos oder Kartoffelkeller. Ein Mensch ohne Auto ist hier ein Krueppel. In gewissen Gegenden hat man den Eindruck, dass da auf Passanten geschossen werden darf – was auch zuweilen geschieht. Manche Dichter schreiben hier sogar, die meisten beziehen aber Wochenschecks, nur $1000.‒ per Woche durch Gina Kaus, $5000.‒ durch den grossen James Hilton.

Die meisten Leute fahren taeglich von Berlin nach Leipzig oder Dresden, was die Entfernung betrifft, und zwar zum Vergnuegen. Die Zeitungen sind unvorstellbar bloed, und doch haben mir bereits zwei distinguier te Dichter (Thomas Mann und Alfred Neumann) unabhaengig von einander versichert, dass die Hollywood Daily News doch ein ganz vortreffliches Blatt seien, was sich nur durch einen langjaehrigen Aufenthalt in Hollywood erklaeren laesst.

Heinrich Mann schwaermt fuer Plivier, Marcuse ist Universitaetsprofessor, Feuchtwanger wird durch seine Frau im Auto zu seinen dates gefahren, und nimmt das weekend-Koerbchen mit, Speyer hat einen juedisch preussischen Roman geschrieben, Frischauer will zum Film, Brecht wurde von Gina Kaus und Paul Frischauers Bruder, einem Bridgespieler, fuer den groessten lebenden Dichter von Beverly Hill, einschliesslich U.S.A. und Europa und Vorderasien erklaert, worauf ich fragen musste, welcher Brecht – es war Bert, Golo Mann sieht mager aus, Froeschel erklaert, er verdiene jedes Jahr drei Nobelpreise, und tue nichts dafuer, und William Dieterle fand es in Deutschland nicht munter.

Das sind nur meine ersten Impressionen. In der Bibliothek der Universitaet von Kalifornien fand ich das gesamte Werk von Rudolf Stratz und kein Buch von Heinrich Mann. Dagegen ist Thomas Mann in Hollywood geradezu beruehmt. Meine Hauptimpression von Hollywood ist: Man kann (in U.S.A.) nur in New York leben.

Lassen Sie es sich recht gut gehn

Schoenstes Weihnachten und gutes Neujahr fuer Madame und Sie
und beste Gruesse von uns beiden
Ihr