Hermann Kesten an Alfred Neumann
New York, NY, 12. November 1943
Original: Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek. München, mit freundlicher Genehmigung von Marian Houston Strauss.
Hermann Kesten
Hotel Park Plaza
5o West 77 th Street
New York City, N. Y.
12. November, 1943.
Lieber Alfred Neumann,
eben erhalte ich Ihren Brief. Der Verlag hat das Manuskript der europäischen Anthologie, das schon beim Drucker lag, in letzter Stunde um mehr als vierhundert Seiten kürzen müssen – infolge der leidigen Papierrationierung, ein Antrag auf mehr Papier wurde ihm abgelehnt. Diesen Zwangskürzungen fielen Autoren wie Sigmund Freud und Jakob Wassermann, Bergson und Werner Hegemann zum Opfer, ferner eine Novelle von Franz Kafka, die Gedichte von Franz Werfel, die vielleicht hübscheste Novelle in der Anthologie, der Leutnant Walker vom [unleserlich] um nur paar Beispiele zu geben. Diese papierene Chirurgie beeinträchtigt natürlich nur uns: den Verlag, die Herausgeber und die Anthologie. Es ist unverzeihlich, dass Sie erst durch einen Prospekt des kleinen Fischer von den Operationen des L. B. Fischer Verlags erfahren. Der Verlag, der diese Kürzungen durchführte, muss den Autoren natürlich seine Entschuldigungen liefern.
Bei dieser leidigen Geschichte ist mir nur eins erfreulich – Sie, lieber Freund können nicht eine Sekunde lang an meiner erprobten Freundschaft zweifeln. Wie geht es Ihnen und Ihrer lieben Frau?
Herzlichst Grüsse Ihnen beiden, auch von meiner Frau
stets Ihr Hermann Kesten.