Projekt

An wen schrieb Klaus Mann am 24. Oktober 1933?
Erhielt er an diesem Tag einen Brief?
Wo befand er sich zu diesem Zeitpunkt?
Verfasste er an diesem Tag weitere Briefe?

Schrieb er an weit entfernte Freunde, oder solche in unmittelbarer Nähe?
Beschäftigte ihn dieser Tage ein besonderes Thema?
Griff einer der Adressaten das Thema auf und verbreitete es unter den eigenen Briefpartnern?


Diesen und ähnlichen Fragen widmet sich das Projekt „Vernetzte Korrespondenzen. Erforschung und Visualisierung sozialer, räumlicher, zeitlicher und thematischer Netze in Briefkorpora“. Im Zentrum stehen die Briefwechsel deutschsprachiger Schriftsteller, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wurden. Mittels Methoden der Digital Humanities sollen die Briefe miteinander vernetzt, indexiert und intelligent verschlagwortet werden, um letztlich ganze Korrespondenz- und Themennetze visualisieren zu können.

Idee 

Der erzwungene Gang in die Emigration bedeutet nicht nur einen materiellen und kulturellen Verlust, sondern auch den Verlust des vertrauten Umfelds; ehemals wichtige Freund- und Bekanntschaften können nicht mehr direkt gepflegt werden. Zugleich gewinnen personelle Netzwerke an Bedeutung, denn sie sind nach dem Verlust der eigenen Existenz oft das einzige, was die Emigranten ins Exil retten können und erweisen sich angesichts der täglichen Herausforderungen als äußerst wichtig, teilweise sogar überlebenswichtig. In diesem Kontext werden Briefe zu bedeutenden Kontakt- und Austauschmedien, worauf zahlreiche aus dem Exil überlieferte Briefe verweisen (trotz erheblicher, den Zeitumständen geschuldeter Verluste). Werden diese jedoch als Schriftwechsel zweier Personen bereitgestellt, tragen sie der dem Medium Brief eigenen vernetzenden Funktion nur in Ansätzen Rechnung. Erst durch die Zusammenstellung ganzer Korrespondenznetze wird es möglich, die umfassende Dynamik der Exilbriefwechsel, ihre räumliche Ausdehnung, ihre zeitliche Frequenz, ihre thematische Vielfalt und ihre diskursive Streuung zu ermessen. Dieser Herausforderung nimmt sich das Projekt nun erstmalig an.

Inhalt

Das an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft, Editionsphilologie und Informatik angesiedelte interdisziplinäre Projekt zielte auf die wissenschaftliche Anwendung und Weiterentwicklung innovativer Methoden der semantischen Netzwerkanalyse und -visualisierung und versuchte, ausgehend hiervon genuin geistes- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen aus dem Bereich der Exil-, Brief- und Kommunikationsforschung zu beantworten. Dabei ging es zum einen darum, Kategorien und Instrumentarien der Netzwerkforschung unter Einbeziehung und Weiterentwicklung informationstechnologischer Verfahren auf ein geisteswissenschaftliches Textkorpus anzuwenden. Zum anderen sollte ein neuer Blick auf den Brief als biographisches wie zeithistorisches Zeugnis der Epoche der NS-Zeit geworfen und damit nicht nur eine erste Untersuchung zur Funktion von Briefnetzen exilierter Schriftsteller dieser Zeit geleistet, sondern zugleich eine neue Perspektive auf den „Alltag des Exils“ eröffnet werden.

Ziele

Ziel des Projektes war die Entwicklung einer modularen interaktiven internetbasierten Plattform zur Visualisierung und Erforschung von sozialen, räumlichen, zeitlichen und thematischen Netzen in Briefkorpora. Mittels verschiedener Analyse- und Visualisierungsangebote soll der Nutzer in der Lage sein, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Fragen an die bereitgestellten Korrespondenznetze zu formulieren und verschiedene, auf das jeweils konkrete Forschungsinteresse angepasste Sichten auf sein Briefkorpus zu erzeugen. Derart sollte es möglich sein, Zusammenhänge zu ermitteln, Prozesse abzubilden, nachvollziehbar, erfahr- und erforschbar zu machen, die aufgrund umfänglicher, komplexer und verstreut liegender Textmaterialien sonst nur schwer erkennbar wären. Letztlich wurden somit auch Fragen ähnlich der eingangs gestellten beantwortbar.

Credits

Das Projekt wurde finanziert im Rahmen einer Förderlinie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), die Vorhaben unterstützt, „in denen geistes? und qualitativ arbeitende sozialwissenschaftliche Fächer in Kooperation mit informatiknahen Fächern neue Forschungsansätze in ihren Fachdisziplinen entwickeln“ (Bekanntmachung 16466 vom 24.05.2011).

Projektlaufzeit: 01.02.2013–31.01.2016